Der Wasserstoffplan von Marseille für ganz Europa

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Rund um die Mittelmeermetropole entstehen milliardenschwere Projekte für grünen Wasserstoff. Die Pläne sind auch für die deutsche Industrie von Bedeutung.

H2V gehört in Frankreich zu den Pionieren im Zukunftsgeschäft mit grünem Wasserstoff. Das Unternehmen plant sechs Produktionsanlagen für den klimaneutralen Energieträger. Große Hoffnungen setzt H2V-CEO Alexis Martinez auf die geplante Anlage in Fos-sur-Mer: Der Industriehafen von Marseille soll "zu einer Drehscheibe für die Wasserstoffwirtschaft werden".

Jahrzehntelang litt die Mittelmeermetropole unter dem Bedeutungsverlust ihres Hafens, dem größten maritimen Knotenpunkt Frankreichs. Mit einer Fläche von über 10.000 Hektar ist er so groß wie die Stadt Paris. Jetzt gibt es neues Vertrauen: "In Fos-sur-Mer schaffen wir den Hafen der Zukunft, ein Testfeld für die Energiewende", sagt Anastasia Touati von der Hafengesellschaft.

Marseille will sich als führende europäische Wasserstoffmetropole neu erfinden. Unternehmen wie H2V investieren in die Produktion von klimaneutralem Gas, Start-ups entwickeln Wasserstoffanwendungen wie emissionsfreie Antriebe für die Schifffahrt, und ein Unternehmenskonsortium plant, 2024 mit dem Bau eines grünen Stahlwerks in Fos-sur-Mer zu beginnen.

Und Marseille soll zum Knotenpunkt einer neuen Wasserstoff-Pipeline werden, die eine wichtige Rolle bei der künftigen Energieversorgung der deutschen Industrie spielen dürfte. Es handelt sich um das "H2Med"-Pipelinesystem, das von der Iberischen Halbinsel durch das Mittelmeer nach Fos-sur-Mer und von dort weiter nach Deutschland führen soll.

Das Projekt wird von den Regierungen in Madrid, Lissabon, Paris und Berlin sowie von der EU-Kommission unterstützt. Die Infrastruktur soll zwei Millionen Tonnen klimaneutralen Wasserstoff pro Jahr transportieren, was etwa zehn Prozent des gesamten europäischen Bedarfs entspricht.

"Mit diesem Projekt wird Marseille zu einem der wichtigsten Wasserstoffzentren in Europa", meint Präsident Emmanuel Macron. "H2Med" soll bis 2030 fertiggestellt werden, die Baukosten werden auf rund 2,5 Milliarden Euro geschätzt. Zu den Überlegungen gehört auch die Anbindung der Pipeline an die Wasserstoffproduktion in Nordafrika. Grüner Wasserstoff wird durch Elektrolyse gewonnen, bei der Wasser mit Strom aus erneuerbaren Quellen in Wasserstoff und Sauerstoff gespalten wird. Große Industrieanlagen in Branchen wie Stahl oder Chemie setzen auf dem Weg zur Klimaneutralität auf den Energieträger. Aber auch kleine und mittlere Industriebetriebe, die Glas, Papier oder Keramik herstellen, Gießereien oder Galvanisierer wollen schnellen Zugang zu klimaneutralem Wasserstoff, um ihre CO2-Emissionen zu reduzieren.

H2V-CEO Martinez ist mit seiner Prognose für den Zeitplan von "H2Med" etwas vorsichtiger. "Ich gehe davon aus, dass die Pipeline eher 2040 als 2030 fertiggestellt sein wird", sagt er. Allerdings wird die Wasserstoffproduktion in Marseille früher beginnen. Die sonnige Küstenregion in Südfrankreich bietet ein großes Potenzial für die Bereitstellung der benötigten erneuerbaren Energie, sei es durch Solar- oder Offshore-Windkraft.

H2V plant in Fos-sur-Mer Elektrolysekapazitäten von 600 Megawatt (MW) mit einer Investition von rund 750 Millionen Euro. Die Anlage, die 84.000 Tonnen grünen Wasserstoff pro Jahr liefern soll, ist eines der größten französischen Wasserstoffprojekte. Sie soll in zwei Phasen in den Jahren 2028 und 2030 in Betrieb genommen werden. In unmittelbarer Nähe des Industriehafens von Marseille entwickeln die Energieunternehmen Total und Engie das Projekt "Masshylia": Ursprünglich als 40-MW-Elektrolyseur geplant, wurden die Pläne im Frühjahr auf eine Kapazität von 125 MW erweitert. Solar- und Windkraftanlagen vor Ort sollen die Produktionsanlage mit Strom versorgen.

"Masshylia" wird voraussichtlich 2026 mit der Produktion von grünem Wasserstoff beginnen. Das Industriegas ist vor allem für die Total-Raffinerie in La Mède bestimmt, die Biokraftstoffe herstellt. "Für uns ist klimaneutraler Wasserstoff ein Schlüsselelement bei der Dekarbonisierung unserer Raffinerieaktivitäten", sagt Sébastian Bruna, der die Wasserstoffabteilung des Energiekonzerns leitet.

Auch der deutsche Gasspezialist Hy2Gen aus Wiesbaden will in der Nähe von Marseille grünen Wasserstoff produzieren, der dann für die Herstellung von Biokraftstoffen und nachhaltigem Flugbenzin verwendet werden soll. Das Projekt "Hynovera" ist auf dem Gelände des ehemaligen Kohlekraftwerks Gardanne geplant. Das Start-up Gravithy will die Eisen- und Stahlproduktion mit grünem Wasserstoff klimaneutral stellen. Hinter dem Unternehmen steht ein Industriekonsortium, dem Unternehmen wie Engie und der französische Automobilzulieferer Forvia angehören.

Das Stahlwerk in Fos-sur-Mer wird voraussichtlich mit einem 700-MW-Elektrolyseur ausgestattet sein. Der Baubeginn ist für das Jahr 2024 geplant, wobei 2,2 Milliarden Euro in den Industriehafen von Marseille investiert werden. Die Anlage soll 2027 voll betriebsbereit sein und jährlich zwei Millionen Tonnen direktreduziertes Eisen produzieren. Unterstützung kommt aus Brüssel: "Das Gravithy-Projekt ist ein Meilenstein und wird zu unserem Ziel in Europa beitragen, bis 2030 zehn Millionen Tonnen sauberen Wasserstoff zu produzieren", sagte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton.

H2V-Geschäftsführer Martinez vermutet jedoch, dass der Strombedarf für die vielen Wasserstoffprojekte rund um Marseille kaum durch die lokal erzeugte Solar- und Windenergie der Region gedeckt werden kann. Daher wird auch Strom aus dem französischen Netz benötigt, das durch den hohen Anteil an Atomstrom weitgehend dekarbonisiert ist. Der Übertragungsnetzbetreiber RTE kündigte im November an, eine neue Hochspannungsleitung nach Fos-sur-Mer bauen zu wollen. Präsident Macron hat bei einem Besuch in Marseille im Sommer noch eine weitere Möglichkeit angedeutet: Der Industriehafen könnte Standort für eines der neuen Mini-Kernkraftwerke werden, die derzeit entwickelt werden.

Paris setzt bei der künftigen Stromversorgung auf Kleine Modulare Reaktoren (SMR). Allerdings ist umstritten, ob Wasserstoff aus Kernkraft als "grün" bezeichnet werden kann - die deutsche Regierung lehnt dies strikt ab und spricht von "gelbem" Wasserstoff.

Den Entscheidungsträgern in Marseille geht es nicht um diese Farbenlehre, für sie zählen die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Nach Angaben der Hafengesellschaft sind vier Jahrzehnte vergangen, ohne dass neue Fabriken gebaut wurden - jetzt gibt es zehn Projekte gleichzeitig. Und Renaud Muselier, Präsident der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, sagt: "Die Energiewende bietet der Region ein enormes Potenzial für die Reindustrialisierung."